Die Zunahme des kollektiven Wissens der Menschheit übertrifft also in rapide zunehmendem Maße die Wissenskapazität eines einzelnen Menschenhirns. Dies bedeutet, daß eine Teilung des Wissens zwischen Einzelmenschen nicht ausbleiben kann. Außerdem zwingt die Überorganisation städtischer Zivilisation mit ihrem verderblichen Wettbewerb zu einer Hast,
die dem Menschen kaum Zeit zur Bewältigung dessen läßt, was er können und wissen muß, um in seinem Beruf konkurrenzfähig zu sein.
Schon in früher Jugend muß er sich für ein bestimmtes Fachgebiet entschließen, und was er da zu lernen hat füllt seine Zeit so aus, daß er keine Zeit und auch keine Kraft mehr hat, sich mit anderen Wissensgebieten zu beschäftigen;
am wenigsten aber hat er Zeit zum Nachdenken, zur Reflexion.
Das Reflektieren aber ist eine für das Menschentum konstitutive Tätigkeit,
und die Muße, die man dafür braucht, ist ein Menschenrecht.
Der Zwang zur Spezialisierung schränkt den Menschen nicht nur ein, er macht die Welt auch furchtbar langweilig.
Wenn man nämlich die Übersicht über die Welt als ganzes verliert, kann man auch nicht mehr wahrnehmen,
wie schön und wie interessant sie ist.
Der Umstand, daß kein Spezialist genügende Kenntnis dessen besitzt, was sein Nachbar tut, hat unausweichlich zur Folge, daß jeder das eigene Spezialgebiet für das wichtigste von allen hält, was wiederum zu einer gefährlichen Verschiebung des Wirklichkeitsbewußtseins führt. Hinzu kommt eine übertriebene Vorstellung davon, was für den Menschen machbar ist. Sie haben den nötigen Respekt vor allem verloren, was der Mensch nicht zu machen vermag; sie haben verlernt mit lebenden Dingen umzugehen, mit der Gemeinschaft der Lebewesen, in der und von der wir Menschen leben.
Die Überschätzung des eigenen engen Wissensgebietes verhindert es nicht, daß ein Spezialist einem anderen uneingeschränkte Autorität zuerkennt. Dieser Verzicht auf Einsicht ist unvermeidlich"
(‚Philosophie des Alltags‘, 1979)