«Wir sind ein Goldstück im Kuhfladen»

07.06.2000  David Bosshart, Leiter des Gottlieb Duttweiler Instituts, legt sich berufsbedingt quer. Doch: «Die Resource «Provokation» ist knapp geworden.»

Das Gottlieb Duttweiler Institut 



Christian Pfister: Sie und Ihr Team vom Gottlieb Duttweiler-Institut sind institutionalisierte Querdenker. Ist das anstrengend?
David Bosshart: Es ist vor allem eine spannende Aufgabe. Migros-Gründer Gottlieb Duttweiler war ein Pionier. Unsere Aufgabe ist es, seinen Pioniergeist auf unsere Zeit zu übertragen. Es gibt immer wieder Momente in der Geschichte, wo es Querdenken braucht. Aber auch solche, wo anderes gefordert ist. Querdenken ist nicht per se gut.

Lässt sich Querdenken organisieren?
In jedem Unternehmen finden sich Leute, die fähig sind, quere Ideen einzubringen. Ebenso treffen wir in jedem Unternehmen den Verwalter, den Kreativen oder den Macher. Um erfolgreich zu sein, braucht es die richtige Mischung.


Was ist ein Querdenker?
Vielleicht kann man ihn mit einem Hofnarren aus früheren Zeiten vergleichen. Ein Hofnarr zeichnet sich durch intelligente Naivität aus. In Unternehmen haben wir häufig das Problem, dass die Leute auf ihrem Gebiet sehr viel wissen. Häufig kommt es dann zu Betriebsblindheit. Hofnarr kann man indes nur sein, wenn man nicht allzu viel weiss. Fehlt diese Naivität, scheint weniger möglich. Die erfahrenen Manager fallen schnell mal in die Litanei: Das haben wir ja hundert Mal vergeblich versucht - oder dergleichen. Insofern kann Wissen bremsen.


Wo liegt die Grenze zum Nestbeschmutzer?
Hier stellt sich die moralische Frage: Heiligt der Zweck die Mittel ?

Ihre Antwort?
Ich kann mir Situtationen vorstellen, wo einer hinsteht im Sinne Luthers und sagt: «Hier steh ich hier und kann nicht anders.» Ob man allerdings mit dieser Gradlinigkeit in der Schweizer Unternehmerlandschaft erfolgreich sein kann, bezweifle ich. Vielleicht wären da machiavellistische Methoden angesagt, also ein Arbeiten aus dem Untergrund.

Sehen Sie sich ab und zu als Nestbeschmutzer?
Ich habe als Leiter des GDI die grössten Freiheiten, die man sich vorstellen kann. Ich bin frei zu sagen, was ich will - bis hin zum Nestbeschmutzen. Doch das ist ein gefährliches Terrain. Hier kommt nämlich die Verantwortung auf den Plan. Angreifen ist stets erlaubt; ich will dies aber so tun, dass ich nie die Ehre der Leute verletze. Das gilt auch für Firmen. Die Angegriffenen müssen stets die Möglichkeit haben, ihren eigen Standpunkt dagegenzuhalten. Werden bestimmte Regeln des Respekts verletzt, dann geht das Spielerische verloren - Gehässigkeit kommt auf. Und dann ist das Querdenken weder spannend noch möglich; es löst nur noch Widerstand aus.

«Wer will, dass die Welt so bleibt, wie sie ist, der will nicht, dass sie bleibt.» Sind Sie mit dieser ultimativen Einschätzung Erich Frieds einverstanden?
Das Zitat gewinnt in unserer Zeit an Brisanz: Wir leben heute in einer permanenten Revolution. Es wäre illusorisch, Strukturen zu bauen, welche in den nächsten zehn Jahren Bestand haben sollten. Unternehmen sind gezwungen, sich gegenüber dem Markt, gegenüber dem Shareholder und dem Kunden besser zu profilieren. Die Transparenz der ganzen Wertschöpfung wird grösser. Unter diesem Druck ist es schwieriger, innovativ zu sein. Innovation stellt sich nur ein, wenn sich im Versteckten arbeiten lässt.

Geben Sie mir ein Beispiel?
Nehmen wir die Pharmaindustrie: Die echten Durchbrüche, die sich für die Firmen zu Ertragbringern entwickelten, kamen nur zustande, weil Forscher insgeheim dafür Budgetgelder abgezweigt hatten. Das wurde ihnen nicht befohlen; vielfach tüftelten sie mit Kollegen in der Freizeit an ihren Ideen. Auch eine Art Querdenkertum.

Sie sind Philosoph. Wer hat zum Querdenken etwas Interessantes zu sagen?
Der Philosoph und Ökonom Joseph Alois Schumpeter war im ausgehenden Jahrhundert einer der massgebendsten Denker in diesem Umfeld. Spannend ist, dass Schumpeter das Wort «schöpferisch» mit «Zerstörung» zusammenbringt. Seine These lautet: Es gibt in der Wirtschaft Zyklen; die Logik des Kapitalismus ist es, dass man das, was man erarbeitet hat, immer wieder zerstören muss. Dies, sobald die Märkte gesättigt sind und alte Produktionsformen überholt. Die Phase der Zerstörung vernichtet Kapital und bringt den Menschen Leid. Menschen verlieren ihr Wissenskapital, weil ihre Fähigkeiten nicht mehr gefragt sind. In solchen Phasen wird aber auch viel schöpferische Energie frei, neue Möglichkeiten schaffen sich Platz.

Woran denken Sie?
Die christliche Schöpfung ist eine creatio ex nihilo, eine Schöpfung aus dem Nichts. Daran erinnert mich auch, was zur Zeit im E-Commerce geschieht, etwa im Be-reich der Start ups. Schliessen sich 200 Software-Spezialisten zu einer Firma zusammen und gehen an die Börse, so kann es sein, dass ihre Firma plötzlich mehr wert ist als ein Unternehmen, das sich über Jahrzehnte einen Namen, eine Marke und Kapital erarbeitet hat. Das ist auch eine Art creatio ex nihilo, die mit der Zerstörung alter Geschäftsfelder einhergeht.

Wie können Firmen quere Gedanken produktiv machen?
Wir müssen unterscheiden, ob etwas zufällig oder bewusst entsteht. Wer nur der ist, der den Finger in die Luft hält und ein paar provokative Gedanken in die Welt setzt, mobilisiert meist sofort die Praktiker gegen sich. Darum ist es für Unternehmen zentral, welche Funktionen sie den Querdenker zuweisen.

Querdenker in Firmen müssten also zugleich etabliert und quer sein?
Das hängt von der Unternehmenskultur ab. In einer Macherkultur legitimiert man sich nur, wenn man auch klarmachen kann, dass man in anderen Situationen bereits etwas geleistet hat. Sonst gilt man als weltfremder Theoretiker.

Liegt es den Schweizerinnen und Schweizern, quer zu denken?
Die mittleren Kader sind in der Schweiz sehr gut ausgebildet. Zugleich haben wir aber wenige Leute mit Querdenkerpotential und mit Mut, aus den Reihen zu fallen.

Ist das kulturell bedingt?
Das wäre ein Ansatz, sich das Manko zu erklären. In unserem Land gilt: lieber nicht auffallen. Eine sehr bürgerliche Grundhaltung übrigens. In den USA finden Sie im Schnitt niemals ein so gut ausgebildetets mittleres Management. Sein Stärke liegt jedoch in der viel grösseren Naivität, mit der sie neue Dinge in die Wege leiten. Das hilft, schnell zu sein und Innovationen umzusetzen.

Wo zeigt sich das?
D.B.: Etwa in der Biotechnologie, aber auch in der ungeheuren Dynamik, die in den USA der E-Commerce entfacht. Die Schnelligkeit in diesen Bereichen kommt insbesondere von der naiveren, unkomplizierteren Vorstellung von Kunden und Kundenbetreuung.

Fehlt es den Eidgenossen auch an Aggression?
Ich werde immer wieder an verschiedene Veranstaltungen im In- und Ausland eingeladen. Nur schon in Deutschland ist die Gesprächskultur angriffiger. Das hat auch damit zu tun, dass die Wahrscheinlichkeit rein geografisch viel kleiner ist als in der Schweiz, dass man einem Kontrahenten in Deutschland wieder mal geschäftlich über den Weg läuft. Hier können sie davon ausgehen, dass Sie sich sogar irgendwann in der gleichen Firma begegnen. Es gibt in der Schweiz eine unausgesprochene Vereinbarung, dass man sich möglichst nicht allzu weit aus dem Fenster lehnt.

Sie persönlich scheinen dieses Erfolgsrezept ignoriert zu haben, sind in die Topetage der Migros aufgerückt, obwohl Sie nicht als Leisetreter gelten. Es geht das Gerücht, dass Verwaltungsratspräsident Kyburz jeweils zwei Meter vom Tisch wegrückte, wenn Sie zu einer furiosen Präsentation ansetzten.
(lacht) Erfolg stellt sich nur ein, wenn etwas hinter der Person und seinen Gedanken ist. In der Schweiz können Sie sich gewisse Naivitäten und quere Gedanken erlauben, wenn Sie ein solides Fundament haben. Das gefällt mir an der Bodenständigkeit der Schweizer. Wir haben einen Qualitätsanspruch und lassen uns von einer Modewelle nicht mittragen, wenn keine Substanz dahinter ist.

Wie viele Querdenker braucht ein Land?
Es ist heutzutage schwierig, Aufmerksamkeit zu erregen: Die Leute hören einem nicht mehr zu, wenn man ihnen etwas Normales erzählen will. Die gesellschaftlichen Tabus sind eh alle gebrochen.

Es stellt sich also die Frage, quer zu was?
Ja, genau. Die Ressource «Provokation» ist knapp geworden. Es gelingt kaum mehr, zu provozieren. Das hat zu tun mit der fortschreitenden Individualisierung der Verhaltensmuster, mit der Beschleunigung der Prozesse und der zunehmenden Transparenz.


Christoph Blocher beherrscht die Provokation. Ist er für Sie ein Querulant oder ein Querdenker?
Ich bin mir nicht schlüssig.

Wo liegt der Unterschied?
Der Grad ist schmal. Blocher ist ein wahrhafter Politiker, der seine Mittel ausreizt, um an sein Ziel zu kommen. Dafür verdient er Bestnoten. Allgemein gilt: Querdenker bringen Neues, Querulanten blockieren.

Unternehmen stehen unter Zwang, innovativ zu sein. Wie schaffen sie ein Klima dafür?
Innovation und Kreativität müssen neu überdacht werden. Sie greifen nicht mehr. Heute, in Zeiten der Internet-Ökonomie, ist Cleverness gefragt. Wir müssen uns von der Vorstellung verabschieden, Kreativität habe mit Können zu tun oder mit himmlischer Inspiration. Heutzutage entsteht Innovation oft auf banaler Ebene: Es wird kopiert, geklaut, zusammengeramscht auf dem globalen Datenstrom. Vieles ist zufällig. Da erleben wir neue Mechanismen, die mehr mit Gerüchten zu tun haben als mit Können. Neues wird entstehen, das andere Gesetzmässigkeiten hat, als die Art von Innovation, die wir bisher gekannt haben.

Stellen Sie sich vor, die Credit Suisse würde Ihnen eine Milliarde Franken zur Verfügung stellen mit der Auflage, einen Ihrer queren Gedanken zu verwirklichen. Was würden Sie anpacken?
Gehe ich richtig in der Annahme, dass ich das Geld nicht für meine Ferien einsetzen darf?

Da liegen Sie absolut richtig.
Dann würde ich das Geld für eine Imagekorrektur der Schweiz in Europa einsetzen - selbst wenn der Gedanke so quer gar nicht liegt. Ich würde versuchen, unser Land als Bildungsstandort zu plazieren. Die Schweiz hat einen hohen Level, was die Ausbildung anbelangt. Das ist extrem wichtig fürs langfristige Überleben. Europa würde uns dann weniger als Exoten und notorische Neinsager schubladisieren. Ich möchte, dass uns das Ausland als kleines aber wertvolles Goldstück wahrnimmt.

Goldstück, wie kommen Sie da drauf?
Wenn ein Appenzell-Innerrhödler einen -Ausserrhödler auf den Arm nehmen will, dann sagen die Innerrrhödler: Wir sind das Goldstück in einem Kuhfladen; und ihr seid der Kuhfladen auf einer Wiese. Was wäre Ihnen lieber?


David Bosshart
Seit Anfang 1999 leitet der vierzigjährige David Bosshart das Gottlieb Duttweiler Institut (GDI). Der promovierte Philosoph kam 1991 als Trendanalytiker ans GDI nach Rüschlikon ZH. 1997 wechselte er in die Migros-Zentrale, wo er die Aktivitäten rund ums Migros-Kulturprozent leitete. Er publizierte unter anderem 1997 «Zukunft des Konsums» und als Co-Autor 1995 das Buch «Kultmarketing».
 
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