Natur und Wissenschaft Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.06.2004, Nr. 143, S. N2


Zum Nachdenken zwingen
Die Wissenskluft wächst gefährlich / Von Gustav Born
 
Die Erkenntnisse von Wissenschaft und Technologie sind überall auf der Welt gültig und nutzbar - sie sollten die Menschen deshalb wirksamer zusammenbringen als irgendeine andere Disziplin des menschlichen Denkens. In der Tat schaffen sie dies großartig bei denjenigen, die sich gemeinsamen Forschungsprojekten widmen, so wie etwa bei der weltweiten Zusammenarbeit in der Genforschung oder in der Proteomik, die sich der noch größeren Aufgabe stellt, die Funktionsweise von Proteinen innerhalb von Zellen zu entschlüsseln; oder bei wirtschaftlich unmittelbar nutzbaren Technologien, etwa der Satellitenkommunikation.

Doch die ständige Beschleunigung der Wissensvermehrung hat auch einen gegenläufigen Effekt, weil sie einen deutlicheren Trennungsstrich zieht zwischen denen, die Teil dieses Prozesses sind, und denen, die es nicht sind. Natürlich gibt es diese Kluft im Grunde schon seit Beginn der modernen Naturwissenschaften im 17. Jahrhundert - sie hat sich jedoch zu einem Schisma zwischen völlig verschiedenen Geisteswelten ausgeweitet. So wie zuvor bei religiösen Schismen führt dies zu Mißverständnissen, Antagonismus und Konfrontation.

Diese Kluft hindert selbstverständlich auf beiden Seiten der Trennungslinie niemanden, sich die jeweils fortschrittlichste Technologie nutzbar zu machen. Es ist schon erstaunlich, wie wenige der Millionen Menschen, die in der ganzen Welt mit ihrem Handy telefonieren, dem kleinen Gerät auch nur eine Spur der Ehrfurcht entgegenbringen, die es verdient. Unzählige wichtige Dinge beruhen auf einer anspruchsvollen Technologie, die man nutzen kann, ohne das Geringste von ihrem wissenschaftlichen Hintergrund zu verstehen. Tüchtige Laboranten können das Vorhandensein oder Fehlen all der vielen Proteine feststellen, die auf die Blutgerinnung einwirken, ohne eine Ahnung von den Wirkungszusammenhängen zu haben. Um solche Laborarbeit erfolgreich leisten zu können, bedarf es nur eines begrenzten Basiswissens; das jedoch ist unverzichtbar. Die Vermittlung eines solchen Basiswissens auf allen denkbaren Gebieten ist etwa ein wichtiges Element der von Tony Blair in Großbritannien mit dem Slogan "Ausbildung, Ausbildung, Ausbildung" bezeichneten Politik.

Wenn man sich jedoch in der Welt umschaut, dann wird klar: Ein solches Ausbildungsniveau bleibt weit hinter den Anforderungen der technologischen Entwicklung zurück. Arme Länder müssen sich mühen, ihrer Bevölkerung wenigstens das Wissen beizubringen, das sie für das nackte Überleben benötigt. In vielen Ländern ist die Erziehung durch religiöse Engstirnigkeit behindert, beispielsweise in Teilen der Vereinigten Staaten, wo man die Evolutionstheorie nicht lehren darf - und das in einer Zeit, in der der Präsident der britischen Royal Society Darwins Theorien für gleichermaßen bewiesen hält wie Newtons Erkenntnisse zur Schwerkraft. Selbst Absolventen der teuersten Privatschulen und besten Universitäten mögen sich fabelhaft in den Geisteswissenschaften bewegen und zugleich keine Ahnung von den Grundlagen der Biologie oder auch nur von den Funktionen ihres eigenen Körpers haben.

Während also so ziemlich jedermann die Ergebnisse von Wissenschaft und Technologie nutzt, gibt es nur wenige, die wirklich verstehen, was sie da nutzen, oder dies auch nur verstehen wollen. Vielen Menschen fehlt einfach die Zeit oder die Kraft oder überhaupt der Wille, immer wieder neue Informationen aufzunehmen und auf unbequemen Wegen zu denken. So bleibt und vergrößert sich die Wissenskluft. Wissen ist freilich nur ein Hilfsmittel auf dem Wege zu besserem Begreifen. Für einen Laboranten mag es ziemlich unwichtig sein, ob er die Vorgänge bei der Blutgerinnung versteht; für die Entwicklung von Thrombosehemmern ist ein solches Wissen entscheidend.

Auf vielen Gebieten droht diese Art des wissenschaftlichen Vorgehens unter einer Informationslawine begraben zu werden. Von der Astrophysik bis zur Gentechnologie und Proteomforschung produziert das Zusammenspiel von technischer Entwicklung und Computer mehr neue Informationen als einzelne Forscher, ja als Supercomputer auch nur annähernd verarbeiten können. Dies hat eine neue Kluft, jetzt innerhalb der wissenschaftlichen Welt selbst, aufgerissen, indem es zwei gegenläufige Wirkungen auslöst: Auf der einen Seite wird so die klassische Methode wissenschaftlicher Entdeckung ausgehöhlt. Sehr deutlich hat das kürzlich der Forschungschef eines großen Pharmakonzerns zum Ausdruck gebracht. "Wir sind an neuen Wirkstoff-Ideen überhaupt nicht mehr interessiert", sagte er. "Wir konzentrieren uns heute ganz darauf, Hunderttausende von vorhandenen Stoffen auf eine mögliche therapeutische Wirkung zu überprüfen." Fast scheint es, daß Methoden, die systematisch auf einem tieferen Verständnis von Krankheiten aufbauen, immer unbeliebter werden. Wenn blinde Technologie in einem solchen Ausmaß an die Stelle inhaltlichen Verstehens tritt, muß etwas Wertvolles verlorengehen. Vermutlich wird es dann nicht mehr oft Geistesblitze geben wie jenen, der Hans Kosterlitz nach jahrelanger harter Forschungsarbeit über Morphine traf, als er sich fragte: Wenn Mohn eine so stark schmerzstillende Substanz enthält - könnte es dann sein, daß ein Stoff mit ähnlichen Eigenschaften sich auch im menschlichen Gehirn findet? Diese schlichte Frage führte zu grundlegend neuen Erkenntnissen im Bereich der Schmerzbehandlung und damit zu Entdeckungen, die für die ganze Menschheit größte Bedeutung haben.

Auf der anderen Seite sollte man die Chancen, die im Zufallsprinzip liegen, nicht leugnen. Edward Wilson nennt Beispiele dafür, daß Zufallsentdeckungen zuweilen nicht nur zu neuen Medikamenten führen, sondern auch Impulse für die Grundlagenforschung liefern, was dann wiederum neue Medikamente zu entwickeln hilft. Als Beispiel hierfür nennt Wilson einen Wirkstoff, der in seiner schmerzstillenden Wirkung Opium weit übertrifft, ohne süchtig zu machen. Dieser Stoff wurde im Rahmen einer Prüfung von Toxinen gefunden, die sich in einem kolumbianischen Giftfrosch finden. Da diese Entdeckung sich auf demselben Gebiet abspielte, auf dem wie oben erwähnt auch Hans Kosterlitz arbeitete, erkennt man den Methodenunterschied sehr deutlich. Ein anderes Beispiel ist die Entdeckung von Cyclosporin, das das menschliche Immunsystem zurückdrängt und so die Abwehr transplantierter Organe verhindern kann. Dieser Wirkstoff ist im Rahmen der Routineüberprüfung eines kaum bekannten norwegischen Pilzes entdeckt worden.

All dies zeigt uns, daß Wissenschaft immer mehr zu einem Prozeß wird, in dem eine Entdeckung eher aus einer Vielzahl von Interaktionen hervorgeht, als daß sie Ergebnis der Ideen und Experimente eines einzelnen Forschers ist. Dies macht sich auch bei der Verleihung der Nobelpreise bemerkbar. Alfred Nobel hatte verfügt, daß die Nobelpreise für Physik, Chemie und Physiologie oder Medizin auf nicht mehr als jeweils drei Forscher aufgeteilt werden dürften. Heutzutage muß man fast alle Nobelpreise so aufteilen, und zwar höchstwahrscheinlich deshalb, weil es schwierig ist, den individuellen Beitrag des einzelnen zu einer Entdeckung überhaupt festzustellen.

Natürlich sollte es möglich bleiben, neue Ideen aus einem Meer von Informationen zu fischen, und das geschieht ja auch täglich. Aber da sich viele Wissenschaftler verpflichtet fühlen, sich in bezug auf möglichst alle neuen Technologien und Forschungsergebnisse in ihrem Bereich à jour zu halten, kann es sein, daß sie aus Zeitmangel oder Überhäufung mit Informationen von ihrer wichtigsten Aufgabe abgehalten werden: Nachdenken und neue Ideen entwickeln.

Und so ist es wohl unvermeidlich, daß die Kluft zwischen den "Know-hows" und den "Know-nots" dank des atemberaubenden wissenschaftlichen Fortschritts sich weiter öffnet. Das erschwert die internationale Zusammenarbeit zunehmend und gibt Anlaß zu ernster Sorge.

Kastentext:

Der Wissenschaftsbetrieb befindet sich im Rauschzustand: Reflexhaft und atemlos produziert er Daten - nicht immer Wissen. Aber auch dieses vermehrt sich explosionsartig schnell. Ein Prozeß, der nicht nur die zum ratlosen Zaungast gewordene Öffentlichkeit zunehmend überfordert, sondern auch die Forscher selbst. Hier erhebt einer von ihnen die Stimme zur Gegenrede und zur Mahnung: Der am Londoner King's College lehrende Gustav Born, Sohn des Physikers und Nobelpreisträgers Max Born und selbst ein vielfach ausgezeichneter Pharmakologe, ruft zum Nachdenken auf. F.A.Z.
 
 
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